11. November 2018

Warum ich?

Passage: Hiob 14,1–6

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

Vanessa ist 24, eine junge Frau, die das Leben genießen will. Sie ist selbstbewusst, liebt es tanzen zu gehen und schätzt ihre Unabhängigkeit. Immer noch. Trotz der Diagnose, die sie vor fünf Jahren bekam: MS. Seit gut einem Jahr sitzt sie nun im Rollstuhl. All die Ideen, all die Pläne, die sie hatte – sie wurden zunichte gemacht. Die Beeinträchtigungen werden immer deutlicher spürbar. Sie versucht, ihre Fröhlichkeit und die Lust am Leben beizubehalten. Doch sie merkt von Tag zu Tag, dass dies mit dem weiteren Verlauf ihrer Krankheit immer schwerer wird. Mit den Beschwerden kommen die Zweifel, die Fragen. Und die eine, die sich immer mehr in den Vordergrund drängt: Warum ich?

 

Roland ist 52, Familienvater, besitzt Haus und Garten. Bis vor kurzem arbeitete er noch als Abteilungsleiter eines gut aufgestellten Unternehmens. Alles lief nach Plan, die Kreditraten waren kein Problem, auch die Ausbildung seiner zwei Kinder war finanziell abgesichert. Im Urlaub, den sie sich jährlich leisten konnten, bekam er die Nachricht seiner Kollegen: Die Firma sperrt zu, schließt Standorte! Auch seinen. Alle Mitarbeiter wurden freigestellt. Es gab noch nicht einmal das Angebot, in einer anderen Filiale unterzukommen. Die Abfertigung war schnell verbraucht. Nun ist er Dauergast im AMS, in seinem Alter noch einmal etwas zu finden, ist so gut wie ausgeschlossen. Die Schulden drücken, die Stimmung in der Familie ist gereizt. In seinem Freundeskreis ist er der einzige, der arbeitslos ist. Ihm ist das peinlich. Und er fragt sich immer wieder: Warum ich?

 

Wir kennen solche Geschichten. Sie können jeden treffen. Über die prominenten Fälle wird berichtet, jedenfalls zu Anfang: z.B. über Formel-1-Pilot Michael Schumacher oder den Wetten-Dass-Kandidaten Samuel Koch. Doch die meisten Schicksalsschläge bleiben im Verborgenen, es sei denn, sie treffen unser persönliches Umfeld oder gar uns selbst. Wer etwas Lebenserfahrung hat, weiß, dass dann diese eine Frage unweigerlich an die Oberfläche kommt: Warum ich?

 

Sie ist uralt und spielt auch im christlichen Glauben eine Rolle, so bedeutend, dass man ihr in der Theologie einen eigenen Namen gegeben hat: Theodizee. Warum lässt Gott dieses Leid zu? Oder noch einfacher: Warum lässt Gott Leid überhaupt zu?

 

Auch Hiob stellt diese Frage! Auch ihm wurde alles genommen: Familie, Besitz, Gesundheit … Er klagt Gott sein Leid, mehr noch: er klagt ihn an, fordert Rechenschaft von ihm. In diesem Zusammenhang spricht er die Worte, die uns im Predigttext begegnen. Wir finden sie in Hiob 14,1–6:

1 Der Mensch, von der Frau geboren, lebt [nur] kurze Zeit und ist voll Unruhe. 2 Wie eine Blume sprießt er auf und verwelkt; gleich einem Schatten flieht er und hat keinen Bestand.  3 Ja, über einem solchen hältst du deine Augen auf, und mit mir gehst du ins Gericht!  4 Wie könnte denn ein Reiner von einem Unreinen kommen? Nicht ein Einziger! 5 Wenn doch seine Tage bestimmt sind, die Zahl seiner Monate bei dir [festgelegt] ist und du ihm ein Ziel gesetzt hast, das er nicht überschreiten kann, 6 so schaue doch weg von ihm und lass ihn in Ruhe, damit er seinen Tag froh beendet wie ein Tagelöhner!

Herr, lass uns dein Wort in unser Herz aufnehmen, damit wir es verstehen und uns danach auf- und ausrichten können. Amen.

 

Diese Worte von Hiob, gesprochen voller Verzweiflung und Resignation, erinnern an die Worte, die der Beter des 8. Psalms formuliert: „Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, und der Sohn des Menschen, dass du auf ihn achtest?“ (Ps 8,5) Die Worte machen deutlich, dass Hiob um seine Unzulänglichkeiten weiß. Ihm ist bewusst, dass er sich vor Gott nicht rechtfertigen kann und auch keine Rechtfertigung Gottes erwarten kann. Wie auch?! „Wie könnte denn ein Reiner von einem Unreinen kommen? Nicht ein einziger!“ lesen wir in Vers 4 … „Klar bin ich Mensch,“ höre ich ihn weiter rufen, „ja, ich mache Fehler und bekenne: Ich bin ein Sünder! Aber das bin ich nicht aus freien Stücken, sondern weil ich Geschöpf bin und nicht Gott. Herr, ich bin dein Geschöpf! Willst du mich also für etwas bestrafen, für das ich nichts kann?

 

Hiob ist gefangen in seinem Leid. Aber auch in der Vorstellungswelt seiner Zeit. Schicksalsschläge wurden als Strafe interpretiert. In der Theologie nennt man das den Tun-Ergehen-Zusammenhang: So wie ich etwas tue, so wie ich andere Menschen behandle, so ergeht es mir auch. Klingt logisch und auch bekannt.

Aber was, wenn man sich schon nicht selbst gegen Gott versündigt hatte? Dann muss es ja einer der Vorfahren gewesen sein. Schließlich verfolgt Gott die Sünde bis in die dritte und vierte Generation! (2 Mose 20,5). Und schon sind wir wieder bei der folgenschweren Erbsündenlehre anderer Kirchen angelangt. Und weil Hiob genau so denkt, fühlt er sich ungerecht behandelt. Und man muss sagen: Aus seiner Sicht vollkommen zurecht. Hiob sucht die Ursache für seine Lage bei einem Gott, der eifersüchtig und rachsüchtig über sein Werk wacht, wohl wissend, dass seine Geschöpfe nicht vollkommen sind. „Was soll das?“ fragt er weiter, „Warum arbeitest du dich an so unbedeutenden Wesen wie mir ab, die vor dir sind wie ein Schatten, der vorbei huscht, wie eine Blume, die, kaum erblüht, schon wieder welkt?

 

An seiner Stelle würde ich vielleicht auch so fragen … Und man muss eingestehen: So alt die Frage auch ist, dieses „Warum ich?“, so aktuell ist sie auch heute im 21. Jh. immer noch. Und trotz alledem unterliegt man auch heute noch dem Irrtum, Gott plane minutiös unser Leben. Oder gar, dass er uns wie mit einem Brennglas beobachtet, am Ende sogar seine Freude an unserem Leid hat? Nein, das tut er nicht! Er hält uns zwar alle in seiner Hand, aber wir sind nicht seine Marionetten, die an seinen Fäden hängen und nur tun und lassen, was er vorherbestimmt. Wenn dem so wäre, wären wir nicht frei.

Doch gerade das, nämlich frei, sind wir, gerade vor ihm sind wir frei! Für diese Freiheit ist Jesus am Kreuz gestorben und auferstanden! Wer uns dem Tod entreißt, wird uns wohl kaum im Leben gefangen halten! Fragen wir also nach dem Warum und richten diese Frage an Gott, widersprechen wir dieser Freiheit, Paulus würde vielleicht formulieren: So machen wir uns selbst wieder zu Sklaven!

 

Hiob sieht den Menschen als ganz minderes Wesen. Aber die Freiheit, die uns unser Herr geschenkt hat, drückt sich auch im eben erwähnten Psalm 8 aus. Denn die Frage: „Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, und der Sohn des Menschen, dass du auf ihn achtest?“ beantwortet der Beter ganz anders als Hiob, nämlich so: „Du hast ihn ein wenigniedriger gemacht als die Engel; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt.“ Mit anderen Worten: Wir sind zwar frei gegenüber Gott, aber eben verwoben in diese noch immer unerlöste Welt und konfrontiert mit einem Leben, das uns immer wieder herausfordert. Es gibt keine Strafe! Es gibt keine Erklärung! Es gibt – das muss am Ende auch Hiob erfahren – keine Antwort auf die Frage nach dem Warum! Das Leben ist wie es ist. Und manchmal – viel zu oft – ist es auch grausam, unerklärlich, ja sogar nach unserem irdischen Verstand unfair.

 

Sind wir damit dem Leben wie ein Spielball ausgeliefert? Sind damit Hiobs Klagen und Fragen vollkommen bedeutungslos? Nein, Hiob handelt hier ganz anders als man es von einem Mann in seiner Lage erwarten würden: er wendet sich in seinem Leid an Gott! Das ist allemal besser als ihm enttäuscht und verbittert den Rücken zu kehren. Denn auch wenn Gott uns in Freiheit leben lässt, so wird er uns nicht seine Liebe vorenthalten. Er mag uns nicht vor den Schicksalsschlägen dieser Welt bewahren, aber er wird uns in ihnen nicht alleine lassen. Bei Gott sind Trost und Hoffnung – auch das ist eine Erfahrung, die ich selbst immer wieder in den schweren Stunden und Phasen meines Lebens mache. Und die auch andere Menschen immer wieder machen. Sprechen sie einmal mit Menschen, die schweres Leid durchgemacht haben. Oder denken sie an ihre eigenen schweren Momente zurück. Was hat ihnen da geholfen?

 

Die große, letztlich ungelöste Frage ist aber die: Es mag erklärbar sein, warum erwachsene Menschen leiden müssen. Vielleicht ist ja doch etwas an diesem Tun-Ergehen-Zusammenhang dran! Schließlich ist ja jeder seines Glückes Schmied.

Andererseits: Warum leiden dann auch unschuldige Kinder? Wie und vor allem wieso kann das sein? Wie kann ein allmächtiger und liebender Gott das zulassen? Das ist eine Frage, die man nicht beantworten kann. Jeder Versuch, diese Frage zu beantworten, führt zu Scharlatanerie oder zu Spekulationen. Ist das ein Beweis dafür, dass es keinen Gott gibt? Nein, natürlich nicht, das sei ferne!

Es ist bestenfalls ein Beweis dafür, dass wir Gottes Tun und Handeln eben nicht erkennen können, denn wir sind ja ein wenig niedriger gemacht als die Engel, die Boten Gottes. Was aber bleibt und Trost und Zuversicht gibt, was uns das Leid und die Mühen dieses Lebens überwinden hilft, ist die ewige Zusage unseres Herrn in Jer 1,8: „Ich bin bei dir und will dich erretten“. Ewig ist das Wort, weil es uns unser Herr selbst in Joh 10,27–29 zugesprochen hat: „27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; 28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ Gottes Zusage des ewigen Lebens zählt, egal was und wie oft uns etwas in diesem Leben wiederfährt. Und so kehrt sich die negative Frage um: Aus dem „Warum ich?“ wird das „Warum nur bin ich erlöst?“. Warum? Weil es Gottes Gnade ist, die wir freiwillig empfangen und „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal 5,1).

Amen.

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